Catherine Belton: "Wie die Tentakel des Kremls" (2024)

ZON: Mussten Sie Änderungen vornehmen?

Belton: Ja, aber zum Glück nichts Wesentliches. Es bliebuns nichts anderes übrig, denn es waren einfach zu viele Klagen, um sich gegenalle auf einmal zu verteidigen. Abramowitsch allein hatte es auf 26verschiedene Stellen im Buch abgesehen. Darunter waren auch Passagen, in denener nicht einmal erwähnt war, etwa ein Zitat von Joe Biden aus dem Jahr 2015,das besagt, der Kreml nutze die Oligarchen als Werkzeuge der strategischenKorruption. In dem Buch stecken 20 Jahre Arbeit als Auslandskorrespondentin inMoskau, Sie können sich vorstellen, wie belastend das alles für mich war. Nachbritischem Verleumdungsrecht kann sich die Verteidigung solcher Klagen weitüber ein Jahr hinziehen – selbst wenn das, worüber man berichtet hat, vongroßem öffentlichen Interesse ist und man journalistisch sauber gearbeitet hat,also in diesem Fall die Behauptungen, die über Abramowitsch aufgestellt wurden,seinem Pressesprecher vor Veröffentlichung vorlagen und ihm das Recht aufAntworten eingeräumt wurde. Bei einem Prozess im Vereinigten Königreich hätteder Verlag mit Kosten in Höhe von rund 2,5 Millionen Pfund rechnen müssen. Undweil Abramowitsch auch in Australien Klage eingereicht hat, hätte sich dieseSumme verdoppelt. Mit dieser finanziellen Drohkulisse hat Abramowitsch versucht,den Verlag von der Verteidigung des Buches abzuhalten.

RAF-Mitglieder übergaben Wunschlisten mit allem, was sie an Geld oder Waffen benötigten

ZON: Sie haben kürzlich in einer Anhörung imbritischen Unterhaus über Ihren Fall sprechen können. Eine Reformierung diesesGesetzes ist jetzt in Planung.

Belton: Ja, das ist immerhin ein Hoffnungsschimmer. MeinGefühl ist, der Kreml ist in unserem Fall eindeutig zu weit gegangen. DieKlageflut ging erst knapp ein Jahr nach Veröffentlichung des Buches los. ZweiMonate zuvor hatte Alexej Nawalny in seinem Video über Putins Palast amSchwarzen Meer mit meinem Buch herumgewedelt und Stellen daraus zitiert. Eskönnte sein, dass der Kreml erst durch das Video auf das Buch aufmerksam wurdeund dadurch die Klagewelle in Gang gesetzt hat. Oder es war reiner Zufall – wirgehen der Sache gerade noch nach. Ich habe lange nicht mit der Presse sprechenwollen, man fühlt sich eingeschüchtert. Der Ratschlag der Anwälte lautet, mitniemandem zu sprechen, weil das vor Gericht falsch ausgelegt werden könnte.Aber weil wir mit so vielen Klagen überzogen wurden, haben viele Journalistenüber meine Situation berichtet und insofern Aufmerksamkeit erzeugt für dieProblematik, dass sich die Gesetze gegen Verleumdung und üble Nachrede auch fürden politisch motivierten Missbrauch eignen.

ZON: Ihr Buch bietet auch einige neue Einblicke inPutins Anfänge als KGB-Mann in Deutschland, in den Jahren 1985 bis 1990. Washat er da genau gemacht?

Belton: Als frisch gewählter Präsident hat er selbst malin einem Interview gesagt, er hätte da eigentlich so gut wie nichts zu tun gehabt,außer zu viel Bier zu trinken und Gewicht zuzulegen. Seine Entsendung nachDeutschland sei ein Zeichen dafür gewesen, dass er beruflich in eine Sackgassegeraten war.

ZON: Es heißt, er hätte damals zwölf Kilo zugelegt.

Belton: Allerdings sieht man ihm das auf keinem einzigenFoto aus dieser Zeit an. Ich glaube, Putins Jahre in Dresden werden allgemeinzu sehr heruntergespielt und unterschätzt. Er arbeitete damals eng mit MatthiasWarnig zusammen, heute bekannt als Geschäftsführer von Nord Stream 1 und 2.Damals war Warnig ein heiß gehandelter Hauptmann bei der Stasi. Einem Überläuferzufolge, der mit Putin in der Stasi zusammengearbeitet hat, rekrutierte Putinihn für den KGB. Putin fungierte als führender Verbindungsmann zwischen KGB undStasi und war nach Aussage eines anderen Überläufers auch persönlich anoperativen Maßnahmen gegen den Westen beteiligt. In einem Fall soll er etwadurch das Unterschieben von p*rnografischem Material versucht haben, einen Professorzur Preisgabe der Formel für ein nicht nachweisbares Gift zu zwingen. Über denAusgang dieser Geheimdienstoperation ist nichts bekannt. Dem Vernehmen nach steuertePutin als KGB-Offizier auch einen bekannten Neonazi, der später eine wichtigeRolle beim Aufstieg des Rechtsextremismus in Ostdeutschland spielte. NachAussage eines ehemaligen RAF-Mitglieds soll Putin zudem eng mit der RAF zusammengearbeitethaben. Mehrfach soll es in Dresden zu Treffen zwischen RAF-Mitgliedern, Putinund einem zweiten KGB-Offizier gekommen sein. Dort habe man zwar keine direktenAufträge für Anschlagsziele erhalten, aber doch Vorschläge sowie dieerforderliche Ausrüstung. Die RAF-Mitglieder übergaben Wunschlisten mit allem,was sie an Geld oder Waffen benötigten. Die angeforderten Waffen wurden dann aneinem geheimen Ort in Westdeutschland hinterlegt, wo die Terroristen sieabholen konnten. Putins Zeit in Dresden war also alles andere als eineberufliche Sackgasse. Tatsächlich hat er auf diesem Posten zahlreiche verdeckteOperationen durchgeführt, ohne ins Blickfeld des Westens zu geraten, der ganzauf Ostberlin konzentriert war.

Putins Jahre in Dresden werden allgemein zu sehr heruntergespielt und unterschätzt

ZON: Als Ihr Buch auf Deutsch erschien, berichteten mancheMedien über Ihre Gespräche mit einem anonymen ehemaligen RAF-Mitglied. Demnachgibt es Hinweise auf eine mögliche Verwicklung der Stasi und auch Putins in denAnschlag auf Alfred Herrhausen, den damaligen Vorstandssprecher der DeutschenBank. Das technisch nahezu perfekt ausgeübte Attentat gibt bis heute allerleiRätsel auf.

Belton: Ja, da bleiben viele Fragen offen. Es lässt sichnicht verifizieren, ob Putin direkt in das Attentat verwickelt war, aber dasses eine enge Zusammenarbeit zwischen dem KGB und der Stasi gegeben hat, stehtfest. Die ausgefeilte Technik, mit der die Sprengsätze gezündet wurden, dieHerrhausen im Dienstwagen auf dem Weg in sein Büro töteten, weist auf einenprofessionellen Hintergrund hin. Das hatte auch das Ex-RAF-Mitglied in unserenGesprächen erwähnt. Wir schauten uns zudem an, welche Motive es gegeben habenkönnte, Herrhausen umbringen zu lassen. Herrhausen hat damals versucht, einenSchuldendiensterlass für die Dritte Welt durchzusetzen, und die Gewährung vonWirtschaftshilfe für die verschuldeten Länder der Dritten Welt war einInstrument sowjetischer Außenpolitik, um sie enger an den eigenen Machtbereichzu binden. Zum damaligen Zeitpunkt wurden außerdem Privatisierungspläne derehemaligen volkseigenen Betriebe in Ostdeutschland entwickelt, und jemand, der inleitender Funktion in diesen Prozess eingebunden gewesen wäre, hätte potenziellauch Zugang zu Geheimwissen über die Arbeitsweise der Stasi und des KGBerhalten.

ZON: Sie schildern auch die berühmte Szene, kurz nachdem Mauerfall, als es zu Demonstrationen in Dresden kam. Als eine aufgebrachteMenschenmenge die KGB-Villa stürmen will, bittet Putin in Moskau ummilitärische Unterstützung. Es fällt der berühmte Satz, der auch bei Ihnen mehrfachzitiert wird: "Moskau schweigt." Wie prägend war diese Erfahrung fürPutin?

Belton: Diese Worte klingen offenbar bis heute noch inseinem Kopf nach. Er war ein aufstrebender KGB-Offizier und hatte sein Lebenlang davon geträumt, für ein Großreich zu arbeiten. Aber das sowjetischeImperium hatte plötzlich aufgehört zu existieren, sich abgeschafft und seineeigenen Leute im Stich gelassen. Er hat einmal gesagt, die Sowjetunion habeihre Position in Europa einfach geräumt: "Ich hätte mir gewünscht, dass anihrer Stelle etwas anderes angeboten worden wäre." Aber es gab keinAngebot. Das muss für ihn und viele andere im KGB eine tiefe Enttäuschunggewesen sein. Ich glaube, er hat es zu seinem Beruf gemacht, Ersatz zu findenfür das, was die Sowjets damals aufgegeben haben. Man muss auch bedenken, dasser in Dresden Teil der Abteilung Auslandsspionage war, die die ersten Anzeichenfür den Untergang des Sowjetimperiums natürlich schon früh erkannt hat. DenKGB-Leuten war klar, dass der Kommunismus auf ökonomischem und militärischemGebiet dem Westen hoffnungslos unterlegen war. Sie haben schon frühVorkehrungen getroffen für den Fall eines Systemwechsels, indem sie Geld indubiose Offshore-Netzwerke nach Liechtenstein und Singapur verschoben, um dieWeiterarbeit von Stasi und KGB sicherzustellen. Es ist also davon auszugehen,dass nicht das Ende der Sowjetunion an sich für den KGB das Überraschende war,auch für Putin nicht, sondern vielmehr die rasante Geschwindigkeit, in der essich vollzog. Sie hatten sich den Übergang zur Marktwirtschaft als einenProzess vorgestellt, den sie kontrollieren würden, und mussten dann mitansehen,wie das System einfach vor ihren Augen kollabierte. Die Folgen diesesErlebnisses hinterlassen bis heute ihre Spuren, bis hin zu Putins Vorgehen inder Ukraine. Es ist zu einem Leitmotiv seines Handelns geworden. Er versucht daswieder zu erschaffen, was damals seiner Ansicht nach einfach aufgegebenwurde.

ZON: Putin versucht also noch heute, das sowjetischeImperium wieder zu errichten, das er in Dresden verloren hat?

Belton: Nicht einmal unbedingt das Sowjetimperium. Schon1994, in seinem ersten Interview nach der Wahl zum ersten Vizebürgermeister von St. Petersburg, sprach er von den Sowjetrepubliken, einschließlichder Ukraine, als künstlichen Gebilden, die kein eigenstaatliches Existenzrechthätten. Er beschuldigte die Bolschewiki,Russland mutwillig in Einzelstaaten zerstückelt und so den Zerfall des Reichesherbeigeführt zu haben. Schon damals richtete sich sein Blick also auf daszaristische Russland.

ZON: Nach seiner Dresdner Zeit kehrte Putin in seineGeburtsstadt St. Petersburg zurück und machte dort erneut Karriere. In einemweiteren beeindruckenden Teil Ihres Buches zeichnen Sie akribisch nach, wie erdort mafiöse Beziehungen zwischen dem KGB und dem organisierten Verbrechenaufbaute. Wie würden Sie den Putin dieser Jahre charakterisieren?

Mit zunehmender Macht Putins wurde die Mafia dann zusehends zur Infanterie, zum Fußvolk des KGB in St. Petersburg, das dessen Willen mit den Mitteln brutaler Gewalt durchsetzte

Belton: In St. Petersburg war Putin Stellvertreter von Bürgermeister Anatoli Sobtschak, einem aufstrebendenDemokraten, und auch da wieder der wichtigste Verbindungsmann zum KGB. Damals hattedas organisierte Verbrechen und nicht der KGB das Gewaltmonopol in St.Petersburg. Putin begriff schnell, dass er und seine Kumpel vom KGB sich die Kontrolleüber strategische Geschäftsfelder verschaffen mussten, um gegen die Mafiaanzukommen und die eigenen Netzwerke weiter finanzieren zu können. Der Geldtopfmit der größten strategischen Bedeutung war der Ölterminal am Hafen, und so sprachPutin mit Gennadi Timtschenko, ebenfalls ein KGB-Mann, über die Idee, selbsteinen Ölterminal in Betrieb zu nehmen. Dadurch gerieten sie in eine Schlacht mitder russischen Mafia, die so ernst wurde, dass Putin seine Töchter inSicherheit bringen musste. Er schickte sie in die Obhut seines engen FreundesMatthias Warnig nach Deutschland. Irgendwann muss er zu dem Ergebnis gekommensein, dass der Kampf gegen das organisierte Verbrechen nicht zu gewinnen ist.Daraufhin tat er sich mit der mächtigsten Gruppierung, der Tambow-Bande,zusammen und man kontrollierte gemeinsam den Ölterminal, den Hafen und dieVersorgung der Stadt mit Erdöl-Produkten. Anfangs war das Machtverhältniswahrscheinlich noch ausgeglichen. Mit zunehmender Macht Putins wurde die Mafiadann zusehends zur Infanterie, zum Fußvolk des KGB in St. Petersburg, dasdessen Willen mit den Mitteln brutaler Gewalt durchsetzte. Ein hochrangigerKGB-Offizier aus Moskau, damals mit Putin an den Verhandlungen über einenÖlterminal beteiligt, war von dieser Kollaboration mit dem organisiertenVerbrechen so schockiert, dass er sich zurückzog aus dem Projekt: "Mit soetwas will ich nichts zu tun haben." Ein Satz aus dem Gespräch mit ihm scheintmir sehr aufschlussreich zu sein für Putins späteren Führungsstil alsRegierungschef: "Die KGB-Leute aus St. Petersburg, dem früheren Leningrad,sind viel skrupelloser als wir Moskauer." Die Moskauer im KGB gelten alsgebildeter, das nagt am Stolz ihrer Petersburger Kollegen, die dafür auf dasRecht des Stärkeren setzen und die Macht notfalls mit roher Gewalt an sichreißen. Diese Skrupellosigkeit ist ein wiederkehrendes Verhaltensmuster inPutins Präsidentschaft. Nehmen wir einmal an, Jewgeni Primakow, der Spionagechefzur Sowjetzeit, wäre seinerzeit statt Putin an die Macht gekommen. So eklatanteVerstöße gegen das internationale Regelwerk, wie Putin und sein innerer Zirkelaus Petersburger KGB-Leuten sie in der Folge begingen, wären bei einem Mann wiePrimakow undenkbar. Er wäre viel vornehmer, viel diplomatischervorgegangen.

ZON: Und diese skrupellosen Leningrad Cowboyssind immer noch an der Macht?

Belton: Ja, als Putin an die Macht kam, hat er sie allenach Moskau geholt. Manche waren auch schon vor ihm da. Nikolai Patruschew, derein Jahr älter ist als Putin, war schon 1994 nach Moskau gekommen. Erhatte bereits verschiedene Führungspositionen beim FSB inne, während Putin imKreml arbeitete. Putin machte ihn zu seinem Nachfolger als Leiter des FSB, seit2008 leitet er den Sicherheitsrat der Russischen Föderation. Er ist ein ideologischer Hardliner und meinerAnsicht nach eine treibende Kraft hinter dem Krieg in der Ukraine.

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