Catherine Belton: "Wie die Tentakel des Kremls" (2024)

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"Putins Netz" ist der bislang fundiertesteBericht über das Innenleben des Kremls. Das Buch zeichnet Wladimir Putin als KGB-Mafiaboss,der offensichtlich Terroranschläge fingiert und Kriege anzettelt, um sich denRückhalt der Bevölkerung zu sichern, der milliardenschwere Oligarchen herumkommandiert,als wären sie seine Capos, und gigantische Mengen von Schwarzgeld verschiebt,um die westlichen Demokratien zu destabilisieren. Die Autorin, die britische InvestigativjournalistinCatherine Belton, arbeitet derzeit für die "Washington Post". Sie berichtete1998 erstmals aus Moskau und wurde später Auslandskorrespondentin für die "FinancialTimes". Nach der Veröffentlichung ihres Buches wurde Belton im vergangenenJahr von dem russischen Mineralölunternehmen Rosneft und vier Oligarchenverklagt – darunter auch Roman Abramowitsch, damals noch Eigentümer des FußballvereinsFC Chelsea. Das folgende Interview wurde zum besseren Verständnis redigiert undleicht gekürzt.

Das Dossier der neuen ZEIT portraitiert den russischen Oligarchen und Putinfreund Oleg Deripaska.

ZEIT ONLINE: Wenn man Ihr Buch liest, gewinnt man denEindruck, dass wir alle den Krieg in der Ukraine hätten kommen sehen müssen, dasser unvermeidlich war. Trotzdem haben nicht einmal Sie selbst damit gerechnet. Warumnicht?

Catherine Belton: Putin hat viele überrascht, die sich ausgiebigmit seiner Person beschäftigt haben. Er hat sogar seine engsten Vertrautenüberrascht – angefangen bei der Wirtschaftselite, über die Chefin derrussischen Zentralbank bis hin zum Finanzministerium. Noch drei Tage vor demEinmarsch hatten selbst die mobilmachenden Soldaten keine Ahnung,was das eigentliche Ziel dieser angeblichen Truppenübung war.

Dass er mit der Ukraine auch so verfahren würde, war unvorstellbar.

ZON: Wie ist das möglich?

Belton: Putin gab stets den kühlen Pragmatiker.Zugegeben, er hat immer mal wieder seine Grenzen ausgetestet. Aber eine gewisseLegitimität seines politischen Handelns und die Anerkennung der internationalenStaatengemeinschaft waren ihm doch wichtig, um seinen Einfluss im Auslandaufrechtzuerhalten und dieses Netzwerk von Fürsprechern für sich zu erhalten.Wie hätte man damit rechnen sollen, dass er sich nun plötzlich die Maske vomGesicht reißt, in die er 20 Jahre lang so viel Arbeit gesteckt hat, und in ein Landeinmarschiert, das direkt vor der Haustür der EU liegt? Sicher, es gab dieBombardierungen in Tschetschenien und Syrien. Die hat der Westen ihm durchgehenlassen und die Augen verschlossen vor den Todesopfern und den zerstörtenStädten dort. Aber dass er mit der Ukraine auch so verfahren würde, warunvorstellbar. Die Gefahr einer Invasion bestand ja 2014, als Russland dieHalbinsel Krim militärisch für sich beanspruchte und 150.000 Soldaten an derGrenze zur Ukraine zusammenzog, schon einmal. Damals sagten seine Berater: "Nein,die Antwort des Westens wird zu stark sein, die Wirtschaft wird die Sanktionennicht aushalten, Sie haben nicht die Unterstützung in der Ukraine und es wirdauch in Russland nicht populär sein." Dieses Mal hingegen war Putin offenbarüberzeugt davon, das abwettern zu können, warum auch immer.

ZON: Und wettert er es nicht ab? Trotz der massiven westlichenSanktionen scheint das Alltagsleben in Russland eher ungestört weiterzugehen. DieRegale in den Supermärkten sind voll, das lokale Kreditkartensystemfunktioniert und der Rubel ist so stark wie seit Langemnicht mehr.

Belton: Der Finanzblock Russlands hat schnell reagiertund Kapitalkontrollen zur Stützung der Landeswährung eingeführt, obwohl er auf soumfassende Sanktionen nicht vorbereitet war. Bis sie die Wirtschaft in vollerHärte treffen, werden wohl noch ein paar Monate vergehen. Im Herbst dürften sichaber die Lager mit westlichen Gütern weitgehend geleert haben. ElwiraNabiullina, Russlands Zentralbankchefin, hat Putin aufgezeigt, welche Gefahrenmit den Sanktionen verbunden sind. Das Schlimmste komme noch: 90 Prozent der Fabrikenim Land sind auf Teile aus dem Westen angewiesen. Der russischen Wirtschaftsteht die schwerste Rezession seit 30 Jahren bevor. Dennoch kann man sie nicht indie Knie zwingen, weil die Energiepreise seit Beginn des Krieges steigen.Russland nimmt täglich so etwa eine Milliarde Dollar durch Energieexporte nachEuropa ein. Der Westen sollte seine Sanktionen also klüger wählen. Derzeit wirdetwa eine Preisobergrenze für russisches Öl und Gas diskutiert. Das würde denPreisdruck, der auf den westlichen Volkswirtschaften lastet, erheblichverringern und dem Kreml eine wichtige Einnahmequelle entziehen. Ich hoffesehr, dass sich in dieser Hinsicht bald etwas bewegt.

ZON: In der russischen Bevölkerung genießt Putin mitseiner riskanten Politik immer noch beträchtliches Ansehen. In Ihrem Buchbeschreiben Sie diesen Zuspruch als ein historisches Muster in Krisenzeiten –um Putin als starken Mann zu inszenieren und die Bevölkerung hinter demdamaligen Premier zu versammeln, sollen seine KGB-Leute sogar Terroranschlägeorganisiert haben. Träumen manche Russen noch vom sowjetischen Imperium?

Putin hat von Anfang an dem unipolaren Modell der Weltordnung den Kampf angesagt.

Belton: Imperialen Träumen geben sich vermutlich alleuntergegangenen Weltmächte hin. Auch der Brexit ist ja das Resultat imperialerNostalgie. Seine politischen Befürworter verbanden ihn mit dem Versprechen neuerstarkter Beziehungen zum Commonwealth, und ein nicht unbeträchtlicher Teilder Bevölkerung hat das geglaubt. Ich fürchte, diese Sehnsucht nach den gutenalten Zeiten gibt es in allen untergegangenen Imperien. In der Sowjetunion kamder Zerfall so plötzlich und unerwartet, dass es kein Wunder ist, wenn derBedeutungsverlust auch heute noch nachwirkt. Putin hat von Anfang an demunipolaren Modell der Weltordnung den Kampf angesagt, in dem die USA die alleinigeFührungsmacht sind und allen die Bedingungen diktieren. Aber um auf Ihre Fragezu den Terroranschlägen zurückzukommen: Ich bin mir nicht sicher, ob Putinselbst dahintersteckte, vielleicht waren es auch Leute aus seinem engstenKreis, Hardliner wie Nikolai Patruschew …

ZON: … heute der mächtige Sekretär desSicherheitsrates …

Belton: … die zweifellos bei einigen der dunkelstenMachenschaften des Kremls ihre Hände mit im Spiel gehabt haben. In Russland hatdas eine jahrhundertelange Tradition, auch die sowjetische Geheimpolizei Tschekawar in die schlimmsten Terroranschläge verwickelt, schreckte vor keinerGräueltat zurück, wenn es um die Eroberung oder den Erhalt von Macht ging. Dasist bei Putins Geheimdienst nicht anders. Trotzdem hat jahrelang niemand rechtdaran glauben wollen, dass der FSB, eine Nachfolgeorganisation des KGB, in dieSerie von Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser verwickelt war, die halfen, Putinan die Macht zu bringen – obwohl es deutliche Hinweise darauf gab. DieAnschläge haben Hunderte von Menschen im Schlaf getötet und Putin einen Vorwandfür den zweiten Tschetschenienkrieg geliefert. Dieser Krieg wiederum hat den farblosenBürokraten, dessen Name gerade einmal fünf Prozent der russischen Bevölkerung einBegriff war, zum Nationalhelden gemacht. Der FSB unterstand damals Patruschew.

ZON: Viele Russen scheint das aber nicht besondersinteressiert zu haben. Woran liegt das?

Die sowjetische Geheimpolizei Tscheka war in die schlimmsten Terroranschläge verwickelt, schreckte vor keiner Gräueltat zurück, wenn es um die Eroberung oder den Erhalt von Macht ging

Belton: Nach Putins Machtantritt stieg der Ölpreis und inder Folge auch der Lebensstandard vieler Menschen in Russland beträchtlich an, dafürwaren sie dankbar. Tatsächlich war das nicht Putins Erfolg, sondern hatteandere Gründe. Anders ist es mit der Stabilität im Land, die sich in gewisserWeise tatsächlich seinem politischen Führungsstil verdankt, der alle Schalterder Macht in seinen Händen vereint. Nach dem Chaos der Jelzin-Jahre hat das fürallgemeine Erleichterung gesorgt. Viele Russen konnten sich endlich wieder eineExistenz aufbauen, eine Wohnung leisten, Urlaub im Ausland machen. Und imUnterschied zu den sowjetischen Zeiten hielt sich Putins Geheimdienstweitgehend aus dem Alltagsleben der Bürger heraus, es sei denn, ihr Verhaltenkollidierte in irgendeiner Hinsicht mit den strategischen Interessen des Kremls.Für Zuspruch in der Bevölkerung sorgt, glaube ich, auch, dass Russland heutevon vielen Bürgern als aufstrebende Großmacht wahrgenommen wird, die auch aufder Weltbühne wieder eine Rolle spielt.

ZON: Gilt das auch derzeit noch?

Belton: Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieBegeisterung für Putin noch lange anhält. Es gibt zu viele Tote auf beidenSeiten, und man darf nicht vergessen, dass die meisten Russen Verwandte in derUkraine haben. Dagegen wird die russische Staatspropaganda auf Dauer nichtankommen.

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